14. Oktober 1918: Legitimitätskrise und Vorzeichen eines Aufstandes

Ministerialdirektor Geheimer Rat Dr. Walter Koch (1870-1947), Quelle: Sächsisches Staatsarchiv, 10692 Ständeversammlung des Königreichs Sachsen, Nr. 16170 (Fotoalbum, Ausschnitt) 

Wie in allen Bundesstaaten des Deutschen Reiches beobachteten die staatlichen Stellen im Königreich Sachsen die revolutionäre Stimmung des Volkes genau. Boten sich noch Wege aus der Krise?

Der Bericht einer am 14. Oktober 1918 im Ministerium des Inneren abgehaltenen Besprechung hochrangiger Beamter und Militärs des sächsischen Staates zeigt auf neun Seiten komprimiert die überwältigenden Probleme, vor welchen das Königreich Sachsen zum Ende des Ersten Weltkrieges stand. Den Bericht durchzieht eine fast hilflos wirkende Verzweiflung der Beamten über ihre zunehmend geringer werdenden Handlungsoptionen zur Abwehr eines revolutionären Umsturzes im Zeichen einer umfassenden Legitimitätskrise des Staates.

Letztere beruhte zu einem großen Teil auf dem Verlust des Vertrauens weiter Bevölkerungsschichten in die Monarchie und führte dazu, dass das gesamte politische System in Frage gestellt wurde.

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(© Sächsisches Staatsarchiv, 10736 Ministerium des Innern, Nr. 11074.)

Bericht zu einer Besprechung im Ministerium des Innern vom 14. Oktober 1918 über die revolutionäre Stimmung in Sachsen, Seite 1

Bericht, Seite 1
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(© Sächsisches Staatsarchiv, 10736 Ministerium des Innern, Nr. 11074)

Bericht zu einer Besprechung im Ministerium des Innern vom 14. Oktober 1918 über die revolutionäre Stimmung in Sachsen, Seiten 2 und 3

Bericht, Seiten 2 und 3
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(© Sächsisches Staatsarchiv, 10736 Ministerium des Innern, Nr. 11074)

Bericht zu einer Besprechung im Ministerium des Innern vom 14. Oktober 1918 über die revolutionäre Stimmung in Sachsen, Seiten 4 und 5

Bericht, Seiten 4 und 5
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(© Sächsisches Staatsarchiv, 10736 Ministerium des Innern, Nr. 11074)

Bericht zu einer Besprechung im Ministerium des Innern vom 14. Oktober 1918 über die revolutionäre Stimmung in Sachsen, Seiten 6 und 7

Bericht, Seiten 6 und 7
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(© Sächsisches Staatsarchiv, 10736 Ministerium des Innern, Nr. 11074)

Bericht zu einer Besprechung im Ministerium des Innern vom 14. Oktober 1918 über die revolutionäre Stimmung in Sachsen, Seiten 8 und 9

Bericht, Seiten 8 und 9
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(© Sächsisches Staatsarchiv, 10702 Staatskanzlei, Nachrichtenstelle Nr. 150)

Zeitungsartikel »Verfassungsänderungen in Sachsen« vom 23. Oktober 1918 aus der Deutschen Zeitung

Zeitungsartikel »Verfassungsänderungen in Sachsen« vom 23. Oktober 1918

Krisensitzung im Ministerium des Inneren

Überaus deutlich erkannte der Vorsitzende der Besprechung, der Ministerialdirektor im Ministerium des Innern Geheimrat Dr. Walter Koch, die Konfliktlinien und Entwicklungen der Zeit und sprach diese offen aus. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen stellte er ohne Umschweife fest, dass man sich »augenblicklich mitten in der Revolution« befände. Wie kam es, dass Dr. Koch bereits einen halben Monat vor den Massenprotesten und Unruhen, die zum Sturz der Monarchie führten, diese Formulierung verwendete? Dies ist zu sehen vor dem Hintergrund nicht nur der gärenden Volksstimmung und der scharfen Agitation insbesondere des linken Flügels der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), sondern auch der angestoßenen »Revolution von oben« im Deutschen Reich wie im Königreich Sachsen, die eine Parlamentarisierung des Staatswesens auf reformerischem Wege zum Ziel hatte.

Der Vorsitzende redet Klartext

Welche großen Krisen machte Dr. Koch aus? Zum einen die politische: Dabei handelte es sich nicht um eine einfache Regierungskrise. Tatsächlich hatten die Erfahrungen des Weltkrieges zu einem breiten Vertrauensverlust des sächsischen wie des gesamtdeutschen Volkes in das monarchische System geführt. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Oktoberreformen zu sehen und die Hoffnung, durch diese Reformen den politischen Druck soweit senken zu können, dass ein gewaltsamer Umsturz ausbleibe. Hierfür wäre es zwingend erforderlich, so Dr. Koch, der Mehrheitssozialdemokratischen Partei (MSPD) ausreichend große Erfolge auf dem innenpolitischen Gebiet zu erlauben. Nur auf diese Weise könnte die MSPD »die breiten Massen […] in der Hand […] behalten«. Die zentralen politischen Wünsche des Volkes benannte Dr. Koch mit den Schlagworten allgemeines, gleiches Landtags- und Gemeindewahlrecht, Frauenwahlrecht und Parlamentariserung der Regierung. 

Die zweite Krise war die soziale Krise, welche die Revolutionsgefahr unabhängig von den politischen Reformen erhöhen konnte. Dazu gehörte der Nahrungsmittel-, Arbeitsplatz- und Wohnungsmangel. Alle drei Problemfelder wurden zusätzlich durch die heimkehrenden Fronttruppen verstärkt.

Alte oder neue Lösungswege?

Als mögliche Mittel zur Stabilisierung der Verhältnisse wurden drei Vorschläge diskutiert, die der Vorsitzende Dr. Koch jedoch ausdrücklich ablehnte. Es handelte sich um die Verschärfung des Vereins- und Versammlungsrechts, die Verschärfung des Belagerungszustandes sowie die Schaffung einer Bürgerwehr durch Bewaffnung der gutgesinnten männlichen Bevölkerung. Alle Punkte bezeichnete Dr. Koch als gegen den Willen der Reichsleitung und des Reichstages gerichtet und als zusätzliches »Öl ins Feuer« gießen, wodurch erst recht der Bürgerkrieg entfesselt werden könnte.

Am Ende blieb die Feststellung, dass die Polizeibehörden »mit aller Tatkraft für die möglicher Weise [sic!] bevorstehenden unruhigen Zeiten zu rüsten hätten, daß sie sich aber […] der Grenzen ihrer Macht und Leistungsfähigkeit  ohne Selbsttäuschung bewusst seien« müssten. Deshalb liege die besondere Verantwortung im Falle eines größeren Aufstandes bei dem Stellvertretenden Generalkommando. Da im vorhergehenden Gespräch von den Vertretern der Militärbehörden bereits darauf hingewiesen wurde, dass keine Gewähr dafür gegeben werden könne, »daß man das […] verwendete Militär unter allen Umständen sicher in der Hand habe«, handelte es sich jedoch auch dabei um eine sehr unsichere Aussicht.

Geringer Handlungsspielraum

Es wird deutlich, wie kritisch die Lage des Königreiches bereits vor dem Ausbruch der großen Unruhen von den anwesenden Beamten und Offizieren eingeschätzt wurde. Der Staat, der in der Theorie zwar noch immer über riesige Machtinstrumente verfügte, konnte sich in der Praxis der Wirkung dieser Instrumente nicht mehr sicher sein. Der Handlungsspielraum war gering. So ruhte letztlich die Hoffnung der Sitzungsteilnehmer auf einem Erfolg der Reformen, die eventuell einer Revolution den Boden entziehen könnten. »Ein Widerstand gegen die Zeitströmung [konnte dagegen] kaum Aussicht auf Erfolg haben«.

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