04.10.2019

Archivale im Fokus

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Deckblatt zu einem Beschluss des Sekretariats der Bezirksleitung vom 08. Oktober 1989 über Maßnahmen zur politischen Führungstätigkeit und massenpolitischen Arbeit im Bezirk (SächsStA-C, 31602 SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, Nr. IV F-2/3/91) 
© gemeinfrei

»In jedem Kreis wird am 08.Oktober 1989 und bis auf Widerruf […] die Einsatzbereitschaft einer Hundertschaft hergestellt« – Das aktuelle Archivale im Fokus widmet sich dem Oktober 1989 im Spiegel der Überlieferung der SED, der Stasi und des Rates des Bezirkes.

Viele Fragen, die wir an die Vergangenheit stellen, lassen sich nicht allein aus einem einzigen Archivale, einem einzigen Bestand oder sogar einem einzigen Archiv beantworten. Oft lässt sich nur in der Kombination verschiedener Überlieferungen ein klarer Blick auf zurückliegende Begebenheiten und Zusammenhänge gewinnen.

Genauso verhält es sich auch mit den Ereignissen im Oktober 1989 im damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt, die dieses Jahr ihr 30. Jubiläum feiern.  Eine wichtige Frage, die sich damals viele Demonstranten auf den Straßen stellten, war die nach der Reaktion der staatlichen Organe. Würden die Demonstrationen gewaltsam aufgelöst werden, wie schon am 17. Juni 1953 oder wenige Monate zuvor beim Tian’anmen-Massaker in der Volksrepublik China?

Angeregt von den Entwicklungen in der Sowjetunion unter dem neuen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, dem Unmut über die offensichtlichen Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 und den immer deutlicher zutage tretenden Mängeln in der Zentralverwaltungswirtschaft verbreitete sich immer mehr der Wunsch nach Veränderung. Die Spitzen von Partei und Staat schienen immer mehr in eine Parallelwelt abzudriften und kaum jemand traute ihnen noch zu, Lösungen für die vorhandenen Schwierigkeiten zu finden. Die Zahl der Ausreiseanträge nahm zum Ende der 1980er Jahre rapide zu. Noch Mitte der 1980er Jahre waren im Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt im Durchschnitt pro Jahr 44 normal gefüllte Aktenordner mit Ausreiseanträgen, größtenteils von Rentnern, angefallen. Allein von Januar bis Anfang Oktober 1989 waren es 127 zum Bersten gefüllte Ordner. Auch die tatsächlich erfolgten Ausreisen über Ungarn und die Zugfahrt der sog. Botschaftsflüchtlinge aus Prag taten ihr Übriges, um die Stimmung weiter aufzuheizen. Die SED Bezirksleitung schob die Schuld auf den politischen Gegner in Westdeutschland und war sich kaum einer eigenen Schuld bewusst. Auf einer Bezirksparteiaktivtagung am 06. September 1989 war die SED zumindest zufrieden, dass die innere Opposition noch immer schlecht organisiert sei, warnte aber davor, dass kirchliche Kreise zu einer immer besseren Struktur beitragen würden. Es wurde gefordert, dass alle Mittel eingesetzt werden müssten, um der Entwicklung Einhalt zu gebieten, denn die SED müsse sich klar sein »was für sie auf dem Spiel steht«[1].

Am 7. Oktober wurde in Plauen zeitgleich zu den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR mittels Handzetteln und Mundpropaganda zu einer Demonstration in der Innenstadt aufgerufen. Tausende Demonstranten nahmen teil und Volkspolizei und Kampfgruppen versuchten die Demonstration, auch mittels als Wasserwerfern eingesetzter Tanklöschfahrzeugen der Feuerwehr – die das Zweckentfremden ihrer Gerätschaften empört verurteilte[2] – aufzulösen. Dieses Unternehmen scheiterte und die Demonstrationen in Plauen wurden bis März 1990 regelmäßig abgehalten. Trotz des Scheiterns zeigte sich dabei die Bereitschaft, von Partei und Staat auch zu Gewalt zu greifen, um der Lage Herr zu werden.

Auch in Karl-Marx-Stadt organisierten Künstler aus Solidarität mit dem »Neuen Forum« eine Veranstaltung im Luxor-Palast. Daraus entwickelte sich ein Schweigemarsch mit ca. 1500 Teilnehmern, der von Polizei, MfS und Kampfgruppen mit massivem Einsatz von Schlagstöcken, Wasserwerfern und eines Hubschraubers aufgelöst wurde.

Die Bezirksparteileitung wertete noch am selben Tag die Ereignisse aus (s. hierzu Download 1 am Seitenende) und legte das Vorgehen für die nächsten Tage fest. Sechs Kampfgruppenhundertschaften und je eine Hundertschaft pro Kreis hatten sich zusätzlich für einen Einsatz bereit zu halten [3]. Der Minister für Staatssicherheit erließ am gleichen Tag die Weisung »volle Dienstbereitschaft« zu sichern und die Dienstwaffen ständig bei sich zu tragen[4].

Glücklicherweise gab es nach dem 7. Oktober bei Demonstrationen im Bezirk Karl-Marx-Stadt kein gewaltsames Vorgehen gegen Demonstranten mehr. Auch die Bevölkerung nahm erleichtert zu Kenntnis, dass es auch bei der Demonstration in Leipzig am 9. Oktober, trotz großer Befürchtungen, nicht zu einem harten Vorgehen der Staatsmacht gekommen war[5]. Am 17. Oktober stellt der stellvertretende MfS-Bezirksverwaltungsleiter fest: »Genossen, durch das Vorgehen der Sicherheits- und Schutzorgane zu den Demonstrationen in Karl-Marx-Stadt und auch Plauen richtet sich der ganze Hass, die ganze Wut dieser Leute und überhaupt dieser ganzen Banditen, negativ-feindlichen Personen, besonders gegen uns«[6] – es zeigte sich also, dass die Gewaltanwendung gegen die Demonstranten sich letztlich als fruchtlos und sogar schädlich für den Staat herausgestellt hatte.

Im Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt wurde unterdessen beschlossen endlich »eine qualifizierte staatliche Arbeit zu organisieren […], Bürgeranliegen aufzugreifen, konstruktiv nach Lösungen zu ihrer Klärung zu suchen und im Prozess der Arbeit für die Bürger sichtbare Veränderungen herbeizuführen.«[7] Später im Oktober wurde ein Katalog von zwölf Sofortmaßnahmen beschlossen (s. hierzu Download 2 am Seitenende), die der besseren Versorgung der Bevölkerung dienen sollte. Darunter war die Umlenkung von Exportgütern zum inländischen Verbrauch, Bereitstellung von Fahrzeugen und Kraftstoff für touristische Ausflüge und Taxifahrten sowie Erhöhung der Leistungen der PGH »Ideal« um der Bevölkerung mehr Kapazität zur Schuhreparatur zur Verfügung zu stellen.[8] Solche Maßnahmen wirken in der Rückschau fast skurril und ihr Einfluss auf die demonstrierenden Massen war äußerst gering und konnten die friedliche Revolution nicht mehr aufhalten.

Diese und andere Erkenntnisse lassen sich aus der reichhaltigen Überlieferung gewinnen, die Sie beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) und im Sächsischen Staatsarchiv finden können.

Am 10. Oktober 2019 findet im Staatsarchiv Chemnitz ein Vortrags- und Gesprächsabend unter dem Titel »Karl-Marx-Stadt 1989 – SED und Stasi im Bezirk unter Druck« ab 18:00Uhr statt. Die Präsentation zum gleichen Thema ist noch bis 28. Feburar 2020 zu sehen. Mehr Informationen finden Sie hier.

[1] Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz, 31602 SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, Nr. IV F-2/2/22.

[2] Parteiinformation 557 p/89: BStU Außenstelle Chemnitz, AKG 398, Bl. 21-25.

[3] Protokoll 38/89 zur Sitzung des Sekretariats der SED Bezirksleitung am 98.10.1989: Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz,  31602 SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, Nr. IV F-2/3/91.

[4] Fernschreiben an die Leiter der Diensteinheiten des MfS: BStU, ZA, Dst 103625.

[5] Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz, 31602 SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, Nr. 14867.

[6] Protokoll der Dienstversammlung: BStU, Außenstelle Chemnitz, AKG 435, Bl. 19.

[7] Beschluss 346/1989 des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt: Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz, 30413 Bezirkstag/Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Nr. 2_11603.

[8] Beschluss 355/1989 des Rates des Bezirkes Karl-Marx-Stadt: Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz, 30413 Bezirkstag/Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Nr. 2_11606.

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